Selbst in der größtenteils modern und sozial organisierten Bundesrepublik Deutschland haben chronisch Kranke und Schwerbehinderte noch immer einen schweren Stand. Als Arbeitnehmer genießen sie zwar nach §85 des neunten Sozialgesetzbuches besonderen Kündigungsschutz, erhalten durch die kommunal organisierten Integrationsämter begleitende Hilfen im Arbeitsleben und betriebsinterne Schulungs- und Bildungsmaßnahmen werden für Integrationsteams in Personal- und Betriebsräten und Schwerbehindertenvertretungen gefördert. Zudem werden solche größeren Firmen durch die Ausgleichsabgabe dazu angehalten, Schwerbehinderte in das Unternehmen als Mitarbeiter zu integrieren. Trotz all dieser Maßnahmen ist die Arbeitslosenquote unter Schwerbehinderten überdurchschnittlich hoch. Zwischen 2006 und 2011 lag sie dauerhaft über 14,6%, im Jahr 2006 erreichte sie mit 17,7% ihren Höchstwert. Auch die aktuelle Entwicklung der Arbeitslosigkeit bei Schwerbehinderten lässt kaum die Hoffnung zu, dass sich dieser Trend ändert.
Vor allem ältere Arbeitslose haben eine schweren Stand und profitieren vom wirtschaftlichen Aufschwung praktisch kaum oder gar nicht. Nahezu zwei Fünftel aller arbeitslosen schwerbehinderten Menschen sind 55 Jahre und älter. Obwohl die Gruppe der Fachkräfte, welche schwerbehindert und arbeitslos sind sogar etwas größer ist als jene Fachkräfte, die ohne Schwerbehinderung arbeitslos sind, ist die Eingliederung von schwerbehinderten Arbeitslosen auf dem klassischen ersten Arbeitsmarkt viel schwieriger als bei Nichtbehinderten.
Von den 3,27 Millionen Schwerbehinderten in Deutschland, die erwerbsfähig sind, ist der Großteil mit 46% in der Gruppe der 55- bis unter 65-jährigen. In der Gesamtbevölkerung beträgt dieser Anteil nur 19%.
Angesichts dieser unbefriedigenden Entwicklung des Arbeitsmarktes für Schwerbehinderte ist es nur konsequent, dass viele Schwerbehinderte sich mit dem Gedanken anfreunden, den Weg in die berufliche Selbstständigkeit zu gehen. Dabei stehen Behinderte einerseits vor den selben Herausforderungen wie Nichtbehinderte, andererseits gibt es jedoch auch einige spezielle Unterstützungsmaßnahmen, die ihnen staatlicherseits zuteil werden können.
Ansprechpartner hierfür sind die Integrationsämter, deren Aufgabe die Sicherung der Integration schwerbehinderter Menschen im Arbeitsleben ist. Dabei ist die Hilfestellung nicht nur für angestellte Schwerbehinderte vorgesehen. Auch Existenzgründer können von den Angeboten profitieren.
Die Integrationsämter können bei der Gründung und der Erhaltung einer selbstständigen beruflichen Tätigkeit schwerbehinderter Menschen Fördermittel bereitstellen lassen. Wesentlich ist zuerst einmal, dass ein Grad der Behinderung von mindestens 50% durch ein Versorgungsamt oder ein Amt für Soziale Angelegenheiten (ASA) festgestellt wurde. Die Förderung erfolgt nur dann, wenn es aufgrund der Vermögenssituation den Schwerbehinderten nicht zugemutet werden kann, die notwendigen Mittel zur Gründung und/oder Aufrechterhatung eines Unternehmens selbst aufzubringen. Zudem muss der Antragsteller arbeitslos sein oder es muss der begründete Verdacht bestehen, dass das Arbeitsverhältnis bald enden wird. Ist der Schwerbehinderte zudem schwer auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelbar (wovon in der Regel schon ausgegangen werden kann), so besteht die Möglichkeit der Förderung einer selbstständigen beruflichen Tätigkeit nach dem neunten Sozialgesetzbuch. Als Rechtsgrundlage dienen dabei insbesondere die Regelungen über die Erbringung individueller Leistungen an schwerbehinderte Menschen nach § 102 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 a) und b) sowie d) bis f) sowie Abs. 4 SGB IX.
Allerdings ist die Förderung begrenzt auf Einzelunternehmer und Freiberufler. Zu letzteren zählen die sogenannten Katalogberufe, die meist ein höheres Ausbildungsniveau voraussetzen. Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure, Betriebswirte, Steuerberater, Menschen in Heilberufen und beratend tätige Selbstständige fallen regelmäßig darunter. Nicht förderungsfähig sind Geschäftsführer von Kapitalgesellschaften wie einer GmbH oder einer Unternehmergesellschaft (sogenannte Mini-Gmbh). Auch vertretungsberechtigte Gesellschafter einer offenen Handelsgesellschaft oder Kommanditgesellschaft (sog. Komplementäre) und Kommanditisten können ebensowenig auf eine Förderung hoffen wie BGB-Gesellschafter oder Vorstände in einer Aktiengesellschaft. Auch jene Schwerbehinderte, die bereits Leistungen aus einer Altersrente, aus Pensionen oder Erwerbsminderungsrenten erhalten, werden keine Leistungen zugestanden.
Außerdem müssen die Antragsteller nachweisen können, dass sie ausreichend durch eine Lehre oder ein Studium für die Branche qualifiziert sind, in der sie selbstständig tätig sein wollen. Zudem werden Kenntnisse der Betriebswirtschaft verlangt.
Die Integrationsämter sind grundsätzlich nicht zur Leistungserbringung verpflichtet. Es handelt sich um Ermessensleistungen ohne Rechtsanspruch. Jeder Einzelfall ist also individuell zu betrachten und entsprechend ist zu beurteilen, ob und in welchem Umfang Leistungen zu gewähren sind. Praktisch ist dieser Punkt von hoher Brisanz wenn es um schlecht vorbereitete Existenzgründungen geht.
Denn Existenzgründer müssen gewisse Voraussetzungen der Integrationsämter erfüllen, um in den Genuss der Förderung zu gelangen. Einerseits muss der oder die Schwerbehinderte die Tätigkeit selbstständig ausführen können, also entsprechend belastbar sein. Was die Erwerbsfähigkeit anbelangt kann sogar ein amtsärztliches Gutachten eingefordert werden.
Meist erwarten die Integrationsämter auch Nachweise über die Teilnahme an Gründerseminaren (etwa der Industrie- und Handelskammern, bei Handwerkskammern oder einer Unternehmensberatung) und einen umfassenden und aussagestarken Businessplan. Aus diesem Geschäftsplan muss klar erkennbar sein, welche Konzeption und welches Vorgehen geplant ist und zudem muss er darauf schließen lassen, dass berechtigte Aussicht auf einen ökonomischen Erfolg bestehen. Dieser wirtschaftliche Erfolg bemisst sich am zu erwartenden monatlichen Einkommen, das erzielt werden kann. Es sollte regelmäßig nach Abzug von privaten Vorsorgeleistungen und betrieblichen Kosten so hoch sein, dass es die Regelsätze der Sozialstellen signifikant übertrifft.
Die Tragfähigkeit wird meist für gewisse Berufssparten nach Erfahrungswerten ermittelt. Dabei spielt die Marktsituation, der Standort, der Kapitalbedarf und die erzielbaren Einkünfte die zentrale Rolle neben der fachlichen und persönlichen Eignung des Existenzgründers.
Um ein Darlehen erhalten zu können, sind jedoch zuerst die Fördermaßnahmen der sonstigen öffentlichen Förderprogramme auszuschöpfen. Dazu zählen insbesondere die Angebote der KfW-Mittelstandsbank, von Landesbanken, Wiedereingliederungshilfen und Gründungszuschüsse der Arbeitsämter und ähnliche Angebote.
Werden Darlehen gewährt, sind Sicherheiten in Form einer Bankbürgschaft, einer selbstschuldnerischen Bürgschaft, einer Lebensversicherung, einer Grundschuld oder ähnliches bereit zu stellen. Die Darlehen müssen investitionsbezogen sein, und zwar etwa auf das Anlagevermögen oder auf immaterielle Vermögensgüter wie Patente und Lizenzen. Die Förderung von Grundstückskäufen oder die Bereitstellung von Mitteln für den Unterhalt von Personalkosten ist generell ausgeschlossen.
Außerdem kann das Amt Arbeitshilfen bewilligen, damit der Arbeitsalltag der bzw. des Selbstständigen erleichtert wird. Dazu zählen technische Arbeitsgeräte genauso wie Arbeitsassistenzen oder Zuschüsse zu Fahrtkosten.
Nicht nur an das die Leistungen des Integrationsamtes denken
Schwerbehinderte sollten bei der Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit nicht in erster Linie an die Finanzierung denken. Zwar hat diese einen gewichtigen Stellenwert und in der Praxis haben es Schwerbehinderte ungleich schwerer an Kreditrahmen von Geschäftsbanken zu ähnlichen Konditionen wie Nichtbehinderte zu gelangen, aber entscheidend ist und bleibt bei einer Geschäftsidee immer die Frage nach dem betrieblichen Erfolg.
Schwerbehinderte sind in vielen Branchen erfolgreich
Geht es um Existenzgründung durch Schwerbehinderte, so zeigt sich, dass in nahezu allen Branchen Start-Ups bestehen, die von Menschen mit einer schwerwiegenden Behinderung gegründet wurden. Besonders häufig finden sich jedoch Behinderte in Dienstleistungsbranchen tätig. Dazu zählen klassische Heilberufe wie Physiotherapie oder Logopädie, Ärzte und Apotheker und beratende Tätigkeiten. In wirtschaftsnahen Dienstleistungssparten findet man Behinderte im Buchhaltungs- und Steuerberatungssegment, als Unternehmensberater, im Direkt- und Networkmarketing, im informationsverarbeitenden Gewerbe und EDV-Management und im Groß-, Außen- und Einzelhandel. Seltener sind Behinderte im produzierenden Gewerbe, Bauhauptgewerbe, im Gastgewerbe und der Hotellerie und dem verarbeitenden Gewerbe tätig.
Welche Behinderungen/chronische Erkrankungen eignen sich zur Existenzgründung?
Es gibt kaum eine Behinderung, mit der man sich nicht selbstständig machen kann, sofern Erwerbsfähigkeit grundsätzlich vorliegt. Ob ein Unternehmen dabei als Haupt- oder Nebenselbstständigkeit geführt wird ist wiederum von den gesundheitlichen und persönlichen Voraussetzungen, von der zur Verfügung stehenden Zeit für das Unternehmen und von den gewünschten Einkünften abhängig.
Meist handelt es sich um körperliche Einschränkungen, fehlende Gliedmaßen, Querschnittslähmung, Blinde oder Sehgeschädigte, Gehörlose oder an inneren Organen geschädigte Existenzgründer. Je nach Tätigkeit ist dabei die Einschränkung größer oder geringer. Beispielsweise ist es aufgrund moderner Informationstechnologien für Gehörlose oder Querschnittsgelähmte nahezu problemlos möglich, als Web-Designer oder Programmierer zu arbeiten.
Haben Behinderte mehr Nachteile oder Vorteile?
Behinderte sind meist sensibler und weitsichtiger als nichtbehinderte Menschen. Ein Rollstuhlfahrer muss sich auf dem Gehsteig schon frühzeitig gedanken machen was passiert, wenn am Ende der Strasse ein Auto den Gehsteig zuparkt. Denn im schlimmsten Fall muss er dann sogar umkehren. Dadurch agieren Behinderte häufig auch bei der Entwicklung eines Geschäftsmodells umsichtiger und weniger naiv.
Besonders wichtig ist die realistische Einschätzung der Chancen und Risiken einer Investition. Auch hier zeigen Studien, dass Behinderte umsichtiger agieren und im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihre Unternehmen den notwendigen ökonomischen Erfolg nicht vermissen lassen.
Andererseits sind zahlreiche Hemmnisse und Probleme bei der Gründung zu beachten. Finanzierungsschwierigkeiten, gesundheitliche und familiäre Belastungen, Bürokratische Hürden und Verzögerungen und gewöhnliche Unsicherheitsaspekte wirken auf Behinderte verständlicherweise intensiver ein als auf die Gruppe der Nichtbehinderten.
Zudem darf die zeitliche Belastung nicht unterschätzt werden. Während Vollerwerbsgründer im Durchschnitt mit einer 48-Stunden-Woche und Nebenerwerbsgründer durchschnittlichen Beanspruchung von 13 Stunden pro Woche rechnen müssen**, ist für Behinderte die zeitliche Auslastung häufig noch deutlich höher, da sie aufgrund ihrer Einschränkungen viele Tätigkeiten nur unter einem höheren Zeitaufwand bewältigen können.
Nicht Solo sein ist „in“
Um die Risiken und Unwägbarkeiten einer Existenzgründung möglichst gering zu halten empfiehlt es sich über Start-Up Partner nachzudenken. Ein relativ erfolgreiches Modell ist die gemeinsame Unternehmensgründung behinderter und nichtbehinderter Partner. Während nichtbehinderte Gesellschafter seltener Vorbehalten etwa bei der Finanzierung durch Banken ausgesetzt sind, können Behinderte ihre Stärken im Unternehmen gezielter entfalten und tragen häufig zum Gelingen und zum Bestand des Unternehmens merklich bei. Auch die Außendarstellung eines Unternehmens gewinnt regelmäßig, wenn erfolgreich und ohne Vorurteile den potentiellen Kunden transportiert werden kann, dass ein Unternehmen den Spagat zwischen ökonomischem Erfolg und sozialer Verantwortung gerecht wird.
Weitere Informationen finden Sie hier:
– einfach teilhaben, Bundesministerium für Arbeit und Soziales
– Integrationsämter: Infos zum Thema Selbstständigkeit
– Existenzgründung und Existenzerhaltung für schwerbehinderte Menschen KVJS-ratgeber Juli 2008
– Gründungsmonitor 2013 der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KFW)
– enterability, Gründungsbegleitung in Berlin
– go unlimited Selbstständig als Behinderter